September 2024 - Auf ein Wort …
Sehr geehrte Damen und Herren,
Freundinnen und Freude des außerberuflichen Theaters,
es soll einmal gesagt werden: Wenn ohne Unterlass die „Verteidigung der Demokratie“, der „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und die „Stärkung der Zivilgesellschaft“ angemahnt wird, kann das ja auch als Aufforderung verstanden werden, wieder einmal genauer hinzuschauen und nicht immer ins gleiche Horn zu blasen wie die Mehrheit der Politiker und der Medien.
Wer „Grenzen“ sagt, muss nicht notwendigerweise „schließen“ assoziieren, wer von Messern spricht, braucht die Blicke gar nicht erst auf geflüchtete junge Männer aus den kriegsversehrten Staaten dieser Welt zu lenken.
37 Verletzungen, davon weit über ein Dutzend Messerstiche, töteten 2020 die junge Südtirolerin Barbara Rauch – eines von zahllosen Opfern männlicher Gewalt hier in Europa, in der "Mitte" der jeweiligen Gesellschaft, überwiegend verübt von Angehörigen der Opfer oder ihren Stalkern. (Messer)gewalt ist immer schon unter uns.
„72 Stunden – eine Anklage“ heißt das Theaterstück, das anlässlich der Südtiroler Mordtat von Barbara Plagg verfasst wurde, die damit ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck gab, aber auch das Bewusstsein dafür schärfen will, dass durchschnittlich alle 72 Stunden, ob in Italien, Deutschland, Frankreich oder anderswo in Europa, eine Frau ermordet wird. Der zutreffende Begriff für diesen Skandal, dem das Bewusstsein noch weit hinterherhinkt, heißt „Femizid“.
Im aufgeheizten Diskurs unserer Gegenwart muss die Gewaltbereitschaft erwähnt werden, die offensichtlich so fest verwurzelt in unserer eigenen Gesellschaft, in unseren eigenen Herzen ist, dass wir nicht mehr wagen, in den Spiegel zu schauen und über uns selbst moralisch erschüttert zu sein. Um so größer dann Entrüstung und Entsetzen, wenn tödliche Gewalt von den "Fremden", den „Anderen“ verübt wird.
Genau diesen psychologischen Mechanismus, dieses Nicht-wissen-wollen des längst Gewussten, stellt Barbara Plagg in ihrem Theaterstück dar. Wir freuen uns sehr, dass nach der Bozener Uraufführung 2022 bisher neun weitere Theatergruppen und Schulen dieses Stück auf die Bühne gebracht haben.
Auf eine weitere, recht neue Veröffentlichung möchten wir Sie in diesem Zusammenhang ebenfalls noch einmal erinnern:
Ismene Schell, Regisseurin, Theaterleiterin, Schauspielerin, Dramaturgin und Autorin, entwickelt für die Freie Bühne Stuttgart – das Stuttgarter Theater für Bühnenkünstlerinnen und -künstler mit Migrations- oder Fluchterfahrung sowie geistiger oder körperlicher Beeinträchtigungen, Theaterstücke. So entstand aufgrund von Interviews mit jungen Männern unterschiedlicher Herkunft ein Stück für 5 männliche Darsteller „Give me five“, eine freundliche, humorvolle Einladung an das Publikum, „Integration“ am Beispiel sehr unterschiedlicher Lebensgeschichten aus gleichzeitig mindestens fünf Perspektiven zu betrachten und sich selbst mit einzubeziehen – dass es dabei nicht ohne Klischees und Vorurteile auf allen Seiten abgeht, gehört dazu, liegt in der Natur der Sache und sollte im Theater lustvoll ausagiert werden dürfen.
Heimat und Beheimatung ist zentral für alle Menschen. Sie ist ortsgebunden, aber es muss nicht immer derselbe Ort sein. Sie ist nicht fühlbar ohne die Zuneigung anderer, aber die anderen können wechseln im Lauf des Lebens. Wer keine Heimat hat, sucht sich eine. Davon handelt die Anthologie „Heimat suchen – Geschichten und Szenen von Flucht und Heimweh“ (Hsg. Gerd Müller-Droste, Henning Fangauf), die dritte Veröffentlichung, auf die wir Sie heute aufmerksam machen wollen. Die darin versammelten Geschichten, Gedichte und Szenen sind die Ergebnisse zweier Theaterworkshops zum „szenischen Scheiben“ mit Lorenz Hippe und Almut Mölk. Sie können im schulischen, sozial- und theaterpädagogischen Kontext frei verwendet werden. Man kann sie aber auch einfach nur lesen.
Selbstverständlich können alle Titel auf www.dter.de teilweise angelesen werden und als Ansichtsexemplar (ausgenommen die Anthologie) mit komplettem Inhalt als PDF oder über den Postweg verschickt werden.
Bestellungen, Lob und Kritik bitte an: theater@dtver.de
Herzliche Grüße aus Weinheim
Deutscher Theaterverlag GmbH
Gabriele Barth