März 2022 - Grenzen, Grenzerfahrungen, Grenzüberschreitungen
Sehr geehrte Damen und Herren,
selten ist uns die Tragweite politischer Entscheidungen so bewusst geworden wie in den letzten Wochen. Wo so viel auf dem Spiel steht mag es schwerfallen, sich auf die Schutzräume des kulturellen Lebens zu konzentrieren. Aber denoch - Literatur, Musik, Film und Theater bleiben wichtig für unser Selbstverständnis und unverzichtbar für das Verständnis der Welt und unser Miteinander.
Bevor wir Ihnen Ende des Monats unsere Neuerscheinungen vorstellen, daher heute einige Vorschläge zum Thema „Grenzen – Grenzerfahrungen – Grenzüberschreitungen“ für jugendliche und erwachsene Spielerinnen und Spieler.
Grenzüberschreitungen (1): Verletzte Grenzen
„Verloren“ ist das Ergebnis der Zusammenarbeit des Münsteraner Spielleiters und Theaterlehrers Christian Reick mit Schülerinnen der Marienschule. Das Stück schildert in mehreren Stationen das Flüchtlingsschicksal dreier junger Frauen zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Ländern.
„Ich denke, es gibt nichts Schlimmeres als die Ungewissheit, und von der gab es jetzt ziemlich viel in meinem Leben. Die Ungewissheit, ob ich die Schule schaffe, die Ungewissheit, ob meine Eltern leiden mussten und die Ungewissheit, wie lange wir noch sicher leben können …“ (3w, ab ca. 14 Jahren)
„Lampedusa“ von Gilles Boulan beschreibt die Zerissenheit der jungen Ägypterin Isis, die zur Zeit des „arabischen Frühlings“mit ihrem französischen Mann im Norden Frankreichs lebt. Während sie sich mit ihm über die Vorgänge in ihrem Herkunftsland zu verständigen sucht, erfahren wir von der Flucht ihres Bruders über das Mittelmeer und hören die Stimme der Mutter, die sich von ihren Kindern allein gelassen fühlt.
Die Mutter: Zehntausend Jahre und nichts hat sich geändert. Die Pharaonen von gestern haben ihren damaligen Göttern Denkmäler bauen lassen. So haben sie sie geehrt und sich ihr Heil mit dem Schweiß der Sklaven erkauft. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Statuen und Mumien eines Tages Postkarten schmücken und Pilgerfahrten auslösen, die so wenig spirituell sind wie die Kreuzfahrten auf dem Nil ... (3D / 4H, Erwachsene)
„Anne Klein“ von Herbert Zanger, Gründer des Theaterpädagogischen Zentrums Hall in Tirol. Das Stück beginnt mit einer Traumsequenz der jungen Anwältin Anne: Alle Menschen sind in einen tiefen Schlaf gefallen, sprechen und bewegen sich aber, als ob sie es nicht bemerkten. Anne hingegen wird immer klarer, dass Menschen weltweit „wie Nutztiere in Ställen“ gehalten werden, als „Nahrungsquelle“ einer kleinen, aber mächtigen Finanzoligarchie. Ihr eigenes Leben erscheint Anne zunehmend unwirklich. Sie riskiert bewusst ihre Anstellung, die Beziehung zu ihrem Partner und sie erfährt schmerzhaft, wie gefährlich es ist, sich mit den Falschen anzulegen. (2D / 4H / 3 bel., / 4 Stimmen, Erwachsene)
„Robin“. Die Altenpflegekraft Robin ist angeklagt, einen alten Mann getötet zu haben. Ihr Prozess erregt großes Aufsehen, denn Robin ist eine „künstliche Intelligenz“. Kann eine KI denn schuldig gesprochen werden? Hat sie sich überhaupt „falsch“ verhalten und wenn ja, wer trägt die Verantwortung? Die Münchner Autorin und Drehbuchschreiberin Anne-M. Keßel hat ihr Gerichtsdrama in das Jahr 2040 verlegt – umso größer das Erschrecken, wie nah uns die Ereignisse und Figuren schon sind. (9 tragende Rollen, davon mind. 2w, 1m, 5 - 15 Nbr., Erwachsene)
„Jesus von Syrien“. Ein Stück zum Krieg von Harald Kislinger. Die zentrale Figur in diesem konzentrierten Text ist ein Waffenhändler. Seine Geschichte wird vom Ende her – an dem seine Läuterung und innere Umkehr steht – aus der Perspektive seiner Familie und Geschäftspartner aufgerollt, bis zurück an den Anfang, Schritt für Schritt, wie eines zum anderen kam.
Frau: Man schiebt immer andere Dinge vor. Mann: Weil man es sich bequem machen will. „Frau: Sie brechen also aus aus der Komfortzone? Mann: Ich muss es. Frau: Wer sagt Ihnen das? Mann: Meine innere Stimme. Frau: Das verstehe ich.“ (3D / 7H, Erwachsene)
„Volksgericht“. Rechtsradikalismus als soziale Struktur. Es ist das Verdienst des Autors Walter Brunhuber, eine Ideologie als soziales Phänomen darzustellen, das in seiner Geschlossenheit den „Austritt“ Einzelner als tödlichen Verrat verstehen muss. Wenngleich das Stück im rechtsradikalen Milieu verortet ist, lassen sich die luzide beschriebenen Verhältnisse ohne Weiteres auf andere Ideologien übertragen. (2 / 6m, Jugendliche)
(Weitere Stückvorschläge zum Thema ideologische Radikalisierung:
„Auf Messer oder Ehre“ von Dagny Reichert (8w / 8m, 13-16 Jahre) / „Gnadentod“ von Ingrid Storz (6w / 7m, Erwachsene) / „Wer den Mächtigen stört“ von Norbert Hagen (4w / 6m / 1 bel., / Nbr., junge Erwachsene)
Grenzüberschreitungen (2): Innere Grenzen überwinden
„Léas Bruder / Le frère de Léa“. Das zweisprachige, deutsch-französische Stück von Marie-Pierre Cattino und Christian Bach handelt von einer Schulklasse (dargestellt vom Sprechchor), die eine Mitschülerin ausgrenzt, weil diese einen „seltsamen“ Bruder hat – einen Bruder, der früher ein Mädchen war. Ein aktuelles Stück, mit dem spielerisch eine andere Sprache eingeübt werden kann. (2 größere Rollen (w) + gemischter Sprechchor, 10-16 Jahre)
„Nacht“ von Jafar Ismail und Karin Strauß. Ungewollt und zufällig entwickelt sich die Bekanntschaft zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau, die unterschiedlichsten Kulturen entstammen. Er ist Jeside und noch fremd im Land, sie ist Deutsche und in der Furry-Szene aktiv. Die Protagonisten werden begleitet von ihren „Schatten“, inneren Stimmen, die ihre Vorbehalte und Ängste thematisieren.
„In unserem Stück geht es nicht um „uns“ und die „anderen“. Im Idealfall beeinflussen sich unterschiedliche Wertvorstellungen gegenseitig (…) Unterschiede können ausgehalten, ja sogar ansatzweise verstanden werden.“ (Karin Strauß) (2w / 2m, junge Erwachsene, Sprechchor, kann als Aufnahme eingespielt werden.)
„Stumm – Mittelmeer in Eimern“. Ein Autounfall. Ein Trauma. Irgendwo, ganz weit weg von den anderen, sitzt Luisa und kann nicht mehr auftauchen. Ein Jugendstück von Theresa Sperling.
„Ich möchte weiter schweigen. Wie Mara. Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich nie wieder mit ihnen sprechen möchte. Schweigen macht wenigstens nichts kaputt. Man kann sich nicht gegenseitig bevormunden, beleidigen oder belügen. Zu schweigen ist viel ehrlicher und irgendwie reiner, findet ihr nicht? Außerdem habe ich Angst vor dem, was ich sagen könnte. Fynn: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Luisa genau das meinte. Sie hat gesungen, kurz bevor es passiert ist. Words lie, hat sie gesungen. Words hurt. Words kill. Words lie. Und dann kam der Baum. Habt ihr das schon vergessen? Es ist doch erst 29 Tage her.“ (9w / 3m / 13-16 Jahre oder junge Erwachsene)
„Was sicher ist“ von Sonja Weichand. Jonas' kleine Schwester stirbt vor seinen Augen bei einem Autounfall. Oder war es ein Bombenangriff? Vater und Mutter behaupten, Jonas sei traumatisiert, dabei verändern sie sich vor seinen Augen zusehends selber. Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit? Ein Stück über das Glück, die Welt als Sinngefüge und Zusammenhang erleben zu dürfen. (3w / 4m, Jugendliche oder junge Erwachsene)
„Fürchtet euch nicht!“ Werden wir nach dem Tod zu Engeln? Wenn es so einfach wäre … Immerhin haben wir Zeit im Überfluss, und die braucht es bekanntlich, um Persönlichkeitsmuster zu verändern und um loslassen zu können. Dass am Anfang des Friedens mit sich selber das Verzeihen steht, ist schon schwer genug. Ein Jugendstück von Sungard Rothschädl. (13w / 8m, 13-16jährige).
Alle Stücke können Sie zur Hälfte auf unserer Website anlesen. Auf Wunsch senden wir Ihnen die kompletten Texte über den Postweg (kostenpflichtig - sie müssen aber nicht zurückgegeben werden).
Wir freuen uns, wenn Sie uns schreiben: bitte nur unter theater@dtver.de
Herzliche Grüße aus Weinheim
Ihr
DEUTSCHER THEATERVERLAG
Gabriele Barth